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L E S E P R O B E N
aus Werken von Werner Helwig
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Raubfischer in Hellas
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Ich gab nicht nach und hielt
ihm entgegen, daß der Mensch, der in den Zentralen der
Hochzivilisation lebe, sozusagen in der Urzelle seiner selbst bedroht
sei. Die Luft sei nicht mehr in Ordnung, an den Nahrungsmitteln wirkten
sich schädliche, kaum kontrollierbare Einflüsse aus, wegen
der Übervölkerung nehme der Verkehr ständig zu. Man
wisse nicht mehr, wohin das führen solle. Es sei keine Zukunft
mehr da, der man geruhig und in Erwartung eines vergnüglichen
Lebensabends entgegengedeihen könne. Man müsse von Moment zu
Moment überleben und freue sich der erfochtenen Siege kaum. Denn
schon wäre die nächste Sorge da und würde die Kraft von
gestern und morgen zugleich verbrauchen. Er jedoch hätte sich in
eine, wie er selbst dargestellt - Räubergesellschaft
zurückgezogen, die sich, alles überspringend, an die Spitze
des Vernichtungszuges gesetzt hätte, der, man wisse nicht wann,
jedenfalls irgendwo im neunzehnten Jahrhundert, aufgebrochen sei, um
der Welt die letzte ihrer Stunden aufzuzwingen. Was aber
unternähme er, um diese Entwicklung zu stoppen? Während in
den Städten Gegenmaßnahmen durchberaten und erprobt
würden, hätten seine Freunde nichts Besseres im Sinn, als das
Meer, die Lebensweide von einigen hunderttausend Wesen, lahmzulegen und
der künftigen Weltverödung die ersten gelungenen
Entwürfe zu liefern!
Raubfischer in Hellas, 1939
Zitiert nach der urtextlichen und endgültigen
Ausgabe von 1959, S. 76f.
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Im Dickicht des Pelion
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Clemens träumte in der
Nacht, da das Feuer über ihn hinwegsprang, eine lange und
sonderbare Geschichte! Er stand in einem gelben wesenlosen Licht auf
der runden Kuppe des Pelion und stieß einen Spaten in den roten
fetten Lehm. Er grub und grub, er schwitzte dabei an der Nasenspitze.
Er wühlte mit einer Art stummer brütender Besessenheit
Löcher in den Boden und wußte nicht warum. Tiefer und tiefer
stieß sein Eisenspaten vor. Endlich klang er, hart
abgestoßen, an Metall. Wo er auch hinstieß ... Metall; eine
knubbelige Fläche. Ohne Erschöpfung zu spüren oder auch
nur Verdruß, begann er zwanzig Schritt weiter hin von vorn von
neuem. Die Lehmerde, die er förderte, häufte sich zu
lockeren, klebrigen beweglichen Hügeln. Als er die neue Grube
ausgehoben hatte, erschreckte ihn die ähnliche Erscheinung: der
Spaten stieß auf eine undurchdringliche Schicht von Metall. Jetzt
geriet er in eine Raserei des Schaufelns und Erdewegstechens; er warf
Gräben aus, breiter und tiefer als Gräber, und er schuftete
so lange, bis er die einzelnen Abteile miteinander zu einem
großen Krater verbunden hatte. Der Lehm, den er auswarf, rieselte
langsam die Kuppe hinab, ganze Lehmhalden entstanden, rutschende
gleitende langsame Lawinen von Lehm.
Er konnte
jetzt erkennen,
daß er den Oberteil
eines riesigen kupfernen Hauptes freigelegt hatte. Das Metall war nicht
gegossen in dieser Form, sondern es schien ausgemeißelt,
ausgehauen, mit rohen Stichen und grobem Werkzeug.
Allein die
Stirn des
Erzhauptes hatte den Umfang
einer Tenne, und die Andeutung wuscheliger borstiger Haare verlor sich
rückwärts in die Erde. Er schaffte sich seitwärts an der
Stirn entlang bis dorthin, wo seiner Vermutung nach das Ohr liegen
mußte. Er traf es als ein Zugespitztes, und der Eingang zum
Ohrloch war groß genug, ihn hindurchzulassen. Als er es von Erde
gereinigte hatte, zeigte sich, daß es in das hohle Innere des
Hauptes führte. Er zwängte sich hinein und fand sich bald
umschlossen von den stofflosen Gewässern des Horchens. In diesem
aufwärtsgerichteten wilden männlichen Antlitz hockte er nun,
und er ahnte, daß der Leib dieses Kolosses sich durch den ganzen
Pelion hin erstreckte. Daß es der Leib eines in Kupfer erstarrten
Roßmannes sei. Und die gewundenen Muschelgänge dieses reglos
lauschenden Hauptes durchkriechend, vernahm er wie fernen langsamen
Tropfenfall Worte eines gestaltlosen Denkens. Das Denken sagte: Tanz
ist der Ausbruch des Feuers im Menschen. Musik entsteht im Herzen. Sie
ist es, durch welche man die Dinge begreift. Man tanze die Formen von
Bechern, Schüsseln, Krügen in die Luft. Und das
flüchtige, ganz und gar Unsagbare wird sich sammeln.
Im Dickicht des Pelion, 1941, S.152ff.
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Gegenwind
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Jetzt
sind es nur noch Minuten, dachte er Alte - jetzt ist's Zeit.
Er hob mit seinen
furchtbaren Händen die schwere Stalltür aus den Angeln.
Geräuschlos setzte er sie neben die Mauer. Mond starrte auf die
Erde. Der Hund winselte um seine Beine. Seine Hundeaugen glühten
grün vor Verlassenheit, vor Einsamkeit des Lebens in ihm, vor
namenloser Angst. Der Alte humpelte über den Hof zum Schuppen der
Schwammfischer hinüber. Er fand die Tür offen, suchte ein
paar Bleisohlen hervor, das Seil mit dem Kerbstein, den Nasenklemmer.
Er ging damit zum Wasser hinab. Boote schwankten verankert und mit
Seilen am Ufer befestigt in der lieblichen runden, tiefbeschützten
Wanne der Bucht. Er band ein Boot los, schwang sich an seinen
Händen hinein. Das Tauchgerät fiel auf die Planken. Mit
katzenleisen Ruderschlägen fuhr er in die Buchtmitte. Zehn Meter,
zwanzig Meter, dreißig Meter. Er wartete, ließ leise den
Anker sinken. Nur den Tod nicht stören ... Dort, in dem Hause
arbeitete der Tod ... Sein feines Siebnetz war jetzt durch die Atemluft
aller Lebenden gespannt. Und wessen Atem nicht taktfest war, der blieb
hängen.
Gegenwind, 1945, S. 111f.
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Illustrationen von
Richard Seewald
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Isländisches
Kajütenbuch
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Husavik, grau
und
sauber ins
dünne Grün seiner Wiesen gesetzt, verschwand hinter uns. Das
Meer sank sichtlich in die Tiefe zurück, während der Horizont
mehr und mehr anstieg. Nach drei Stunden Fahrt dampfte unser
Kühler wie ein Samowar, und wir mußten einen Teil unseres
Sodavorrates für ihn opfern, da hier die Quellen so eigensinnige
Wege nahmen, daß wir sie nicht erreichen konnten. Endlich hatten
wir das Hochland vor dem Wagen.
Ein baumloses Gelände, braungrün
getönt, von niedrigen Hügelbergen durchzogen, breitete sich
rundhin aus. Die Straße verlief in weichen, oft unkenntlichen
Linien durch lehmige Löcher und Kulen. Hier gab es dann Wasser
genug in Form von ausgedehnten Pfützen. Es peitschte uns durch die
zersprungene Windschutzscheibe ins Gesicht. Auf immer noch leicht
geschrägter Ebene stiegen wir an. Die Dämmerung ließ
Schleier von Nebel auf uns nieder. Der Sichtkreis war schließlich
auf fünf Meter beschränkt. Ruckend und hüpfend humpelte
der getreue Wagen dahin und mit ihm humpelten und hüpften unsere
gepeinigten Leiber.
"Jetzt ist Nacht", murmelte Brygg, und da es keineswegs der
Tatsache entsprach, wollte ich ihn verwundert anschauen, was mir aber
nicht gelang, da die hüpfende Wagendecke ihm den Diplomatenhut bis
auf die Nase ins Gesicht getrieben hatte. Ich zog die Bremse und
korrigierte seinen Anzug. Er bearbeitete in schweigendem Verdruß
die Islandkarte, die er aus der Tasche der Wagentür gezogen hatte.
Isländisches
Kajütenbuch, 1950, S. 107f.
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Umschlagzeichnung von
Richard Seewald
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Auf
der Knabenfährte
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Dieses mental
Angestecktwerden
ist auf sehr vielen Ebenen möglich. So ist das
Sich-identisch-fühlen eines Lesers mit seinem
Lieblingsschriftsteller dem gleichen Vorgang zuzuordnen. Ansteckungen
können also zum Guten wie zum Schlimmen führen. Ich,
beispielsweise, bin entscheidend von dem Werk des englischen
Schriftstellers John Cowper Powys angesteckt worden. Das heißt,
er hat einen Gärungsvorgang in mir angeregt, der meinen
eigentlichen "Ton" fördern half. Zu solcher Fruchtbarkeit
können Freundschaften und Liebesverhältnisse führen.
Fuhrmann nennt das: Wir setzen uns aus den anderen zusammen, die wir
suchen, weil sie wiederum uns für ihre eigene Komplettierung
brauchen.
In diesem Sinne verstehe ich auch, warum das
Schreiben von Büchern im Laufe der letzten Jahrzehnte, sozusagen
durch Erpressung seitens der nothaften Zeit, zu einer Beschreibung des
Vorgangs, der zum Schreiben führt, hat werden können. Wir
suchen im Schriftsteller den Freund, mit dem wir Intimstes austauschen.
Wir wünschen ihn, mehr als in ausgerundeten Romanen mit gestellten
Kulissen, in Tagebüchern und Briefen über seinem mystischen
Eigentum, im Zentrum dieses Eigentums anzutreffen und dort, in diesen
Bezirken, Signale mit ihm zu tauschen, in denen er sich, wir uns,
endgültig und vorbehaltlos zu erkennen geben. Das ist hilfreich.
Das führt uns in brüderlicher Vereinigung durch die
zermalmenden Gewalten der Gegenwart.
Auf der Knabenfährte, 1951,
S.
188f.
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Das eigentliche "Werk" Helwigs aber, das
übrigens zu den tatsächlich niedergelegten Schriften in einem
ungewöhnlich engen Wesenszusammenhang steht, ist sein Leben: das
Leben eines Mannes, der mit mehr Berechtigung als andere von sich sagen
dürfte, er gehöre einer "verlorenen Generation" an. (...)
Viele seiner Bücher, wie "Auf der Knabenfährte", eine
autobiographische Erzählung, das "Isländische
Kajütenbuch", vor allem seine große griechische Trilogie
verdienen gewiß die Aufmerksamkeit derer, die
zeitgenössische Literaturgeschichte schreiben.
Jean Améry, Berühmte
Zeitgenossen, 1965
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Der
Brigant Giuliano
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Don
Gesualdo
starrte eine Weile
nachdenklich zu dem verhüllten Glaslüster empor und
ließ die Fingernägel seiner herabhängenden Linken an
der Querleiste seines Sessels trommeln, bevor er antwortete:
"Sonnenhaupt wohl schwerlich anders, als auf eine nur den Poeten
sichtbare Art." Ruckartig kehrte er sich dann mit der ganzen
Brustbreite zu mir, schoß einen strengen, forschenden Blick
seiner hellgeringten Vogelaugen auf mich ab und fuhr fort: "Wie dem
auch sei: wessen sich die Geschichte bedient, dem erspart sie die
blutigen Hände nicht. Nur eben: bei Giuliano stand die
Geschichtsfähigkeit in Frage. Er litt an einer unklar empfangenen
Idee. Seine ungeheuerlichen Erfolge ließen ahnen, daß hier
wahrscheinlich eine klare Idee fällig war. Nur trat sie nicht in
dem richtigen Mann hervor. Er maßte sie sich an, aber er
besaß nicht das Maß. Er stand nur als unartikuliertes Etwas
in dem finsteren, gewaltigen, musisch getönten, undurchdringlichen
Erbe sizilianischer Urzeit. Er stieß auf die verlassene
Rüstung irgendeines Condottiere, aber er vermochte nicht, sie
auszufüllen. Sie schlotterte an ihm. Sie paßte, sie
saß nicht."
Der Brigant Giuliano, 1953, S. 18
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Waldregenworte
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Aber nun streichelt dir Schlaf
die Augen, zart wie die langen Staubfäden der Kapernblüte,
und du verspürst ein Ziehen, eine hinwegwirbelnde Helligkeit, und
vor deinem inneren Blick steht die Schöne.
Sie zu sehen, hält die Angst an. Ihre
Gegenwart
erzeugt einen summenden Ton in dir, ähnlich dem Summen der Bienen
vor dem Gewitter.
Dies ist der Ton, aus welchem alle Klänge
hervorgehen. Von hier aus erfährst du, wie Worte erzeugt und Verse
geordnet werden und wie es zu jener bebenden Spannung zwischen den
Silben kommt, darin der Leib seiner Schwere vergißt. Dann
erbraust die Muschel deines Gemüts. Die Sinne umstrahlen dich,
wach wie Speere.
Und du bist, wie überblühtes
Rankendunkel,
nur Hauch, nur Duft. Und der Hinkende in den Tiefen, von dir geleitet,
schmiedet deine Krone.
Waldregenworte, 1955, S. 46
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Der gefangene Vogel
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Wie
steht es nun mit der
Botmäßigkeit des Todes? Erreicht er dich zu Recht oder zu
Unrecht? Es ist deine Sache. Wie du es anfängst, so packt er dich.
Und du wirst ihm ausweichen wollen, wenn er dich aus dem Rachen deiner
Taten her anpacken will. - Du gehst ihm entgegen wie deinem
Zwillingsbruder, der mit dir wuchs und mit dir groß und herrlich
wurde, wenn du eine gelungene Fahrt mit deinem Leben gemacht hast. So
steht es damit. Das ist ein echter Tod. Aber der falsche Tod, der aus
deinen Taten nach dir packt, dem sollst du und willst du dich
entziehen. Dem willst du obsiegen und deine Fahrt möglichst noch
zum glatten Ende führen. Dazu kann dir der Ensalmador helfen. So
weiß mans im Baskenlande.
Dieser Ensalmador hat ein Bündnis mit den
Elementen. In diesem Wundertäter kreuzen sich die Elemente und er
legt deiner Krankheit seine Macht an wie einen Zaum, den man mit Salz
bestrich, um ihn dem widerspenstigen Pferdemaul süß zu
machen. Verstehst du das? Er greift hinein in dich, in dein
Sündenwerk, mit seinen weißen, trockenen Händen, und
ist mit Tier, Pflanze und Wasser im Bündnis. Höre auf den
Ensalmador, wenn es so mit dir steht. Das Hören wirst du lernen
müssen. Ein zum Horchen geneigtes Herz vernimmt den Takt der
Sterne und findet sich in seine Bahn zurück, bevor sie ganz
entschwindet.
Der gefangene Vogel, 1940, S. 9f.
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Das
Steppenverhör
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Allen Demagogen der Politik,
des Geschmacks
und der Gesinnung
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Ich verhalte mich
unbeweglich,
mit höchstens einer kleinen Tätigkeit in den Fingerspitzen,
in den Knien, am Ende der Wirbelsäule oder im Kopf. Mein Geist
weilt weit ab, in einem hohen Gebirge. Meine Augen werfen Licht
zurück, brechen Strahlen, lassen Sonnenflecken springen. Ich habe
keine Wurzeln. Ich lasse nichts anderes hinter mir zurück als eine
Spur in weißem Staub. Ich lege die Betonung auf Atem. Politik ist
für den Geschmack des Tages arrangierte Geschichte. Die
Termitenlogik der Parteibonzen ist ohne Salz. Die Erlösungslehren,
die der Staat bereithält, haben keine Seele. Das Gerede vom
Fortschritt ist Aberglaube. Großartig ist allein der Gleichmut
der Schöpfung. Jede Nacht hißt der Himmel seine
Tätowierungen. Jeden Morgen verwüstet ein Brand die
einförmige Steppe des Dunkels. Jeder Mittag gießt dem
Schläfer im Freien kochendes Öl in die Ohren. Jeden Tag
sammeln sich erneut die Fäserchen eines prähistorischen
Schmutzes unter den Fingernägeln. Ich strenge mich an, nichts
Verpflichtendes zu sprechen. Ich will nicht zu diesen, ich will nicht
zu jenen gehören. Die Statik der Zeit und des Raums, für mich
ist sie in diesem Moment, in dieser miesen Hütte
zusammengedrängt. Mein klappriger Gaul ist wirklicher als eure
Radaranlagen. Stellt mich dem Atommeiler eurer unermüdlichen
Produktivität gegenüber - ich niese ihn weg.
Das Steppenverhör, 1957, S.
84
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Der
smaragdgrüne Drache
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Nachdenklich wie er war,
beschloß Herr Zeidler, nicht den direkten Weg zum Häuschen
einzuschlagen. Er war daher genötigt, die Ausländerkolonie zu
durchmessen. Diese zog sich, wie eine Auslage von Schaugebäck, den
Hang entlang, der Sadoja nach Osten begrenzte. Herr Zeidler hatte schon
manchen Belustigungsspaziergang mit seiner Frau durch die Gefilde der
Geldemigranten gemacht. Jetzt, ganz allein dem Anblick der wunderlich
stilisierten Villen ausgesetzt, überkam ihn eine schwache
Übelkeit. Er sah Häusermauern, deren Bewurf künstlich
aufgerauht war, wie ein Frottierhandtuch; er sah andere, die, glatt wie
Kunstseide und auch so gefärbt, mit stummer Auffälligkeit dem
Blick begegneten. Höhlige Veranden im Kolonialausstellungsstil,
rosa ausgemalt oder wie das künstliche Bütten hochtrabender
Trauerbriefe mit breiten schwarzen Rändern dekoriert. Hier gab es
einen hochmodernen Gartenzaun mit grün gestrichenen
Betonpfählen, die durch Eisenschienen miteinander verbunden waren.
Dort beschrieb eine Plastikklinke einen Schnörkel des Wahnsinns
auf einer polierten Aluminiumtür. Vor einer Riesenvilla fielen
kunstgebogene Gittertüren aus Gasleitungsrohr auf. Dort hatte
jemand - es war der Explosionswissenschaftler Herr Dr. Fadl - seine
Porträtbüste aus marmoriertem Gips auf der Veranda
aufgestellt und ließ sie stellvertretend talwärts blicken.
Bei andern Häusern wiederum war an jeder nur möglichen Stelle
ein Geländer wie an einem Krankenhausbett angebracht und schmiegte
sich in Kurven über Balkons, Mauervorsprünge und Freitreppen,
die gegen nackte Wände oder sonderbar sinnlose Laderampen
emporführten.
Herr Zeidler war genötigt, nach links zu
grüßen. Er hob, wie verspätet, die Hand zum Hutrand,
denn der Schöpfer all dieser modischen Krematorien, Herr Architekt
Wildleder, schritt an ihm vorbei. Sein Gruß wurde wie von der
Höhe einer Bergzinne herab erwidert. Her Zeidler drehte sich noch
einmal verstohlen um und betrachtete mit neuerlichem Interesse die
Haartracht des Künstlers: graumelierter Bubikopf, der hinten weit
über den gutgebügelten Rockkragen hinausstand und seine
Statik wahrscheinlich einer täglichen Behandlung mit Pomade
verdankte.
Der smaragdgrüne Drache,
1960, S.
26f.
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Capri
- Magische Insel
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Wieder die
Labyrinthlinien
ausgeschritten, in denen hier alle Wege verlaufen und durch die die
kleine, enge Insel ausgedehnter wirkt, fast wie ein Kontinent. Die
Häuserkuben, die Säulengänge, der Einblick in
verwunschene Gärten, eine höhlenartig überwachsene Allee
mit Zwergenstatuetten, an deren Ende eine Hauswand weiß und
schweigend wartet. Wir schreiten hurtig aus. Yvonne, nachtblind von
Natur, fürchtet das Einfallen der Dämmerung.
Schließlich ein kunstschmiedeeisernes Tor, angelehnt. Ein
Gärtner ist mit der Heckenschere beschäftigt. Wir bitten ihn,
der Signora unseren Besuch anzukündigen, studieren unterdessen die
eisernen Ornamente: Hakenkreuz neben Davidstern, Pentagramm neben Kreuz
im Kreis: das fügt sich, jugendstilumrankt, ins Gitter. Auf
verwaschener Marmortafel eine Inschrift, die besagt, daß der
Architekt dieses bemerkenswerte Reduit vor einigen Dezennien erbaute.
Eingeweihte wissen, daß er der jüngere Lebens-Freund jener
älteren George-Dame war oder noch ist und immer bleiben wird, die
hier haust. Denn an dieser Stätte und dem in ihr beheimateten
Herzen zehrt keine Zeit, ist der Ewigkeitsanspruch Capris zu
unzerstörbarer Figur geworden.
Capri - Magische Insel, 1973, S.
233
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Die Parabel vom gestörten Kristall
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Zum erstenmal begriff ich
völlig, daß Henny tot sei. Und der Verdacht setzte sich in
mir durch, daß der schreibende Mensch immer eigentlich ein wenig
Bajazzo ist. Jedem Schriftsteller steht seine Witwe bevor, oder
diejenige, die sich dafür hält.
Wieviele kenne ich jetzt schon. Mein Alter wird mir
darin bewußt. Die Witwe Hamsun, die Witwe Derleth, die Witwe
Musil, Niebelschütz, Diettrich. Jede hat ein Eheleben lang ein
ganz klein wenig an der Goethefähigkeit Ihres Gespons gezweifelt.
Mit dem Tod ändert sich das. Sie haben einen lebenslangen Konflikt
beerdigt. Das Idol kann geboren werden. Die Entscheidung ist gefallen.
Er war einer jener Großen. Und jetzt beginnt die
Nachlaßbewirtschaftung. Da beugen sie sich mütterlich
über den Verewigten. Endlich ist er Sohn, Wiegenkind wieder
geworden. Absehbar. Unentrinnbar. Eigentum. Wehrlos. Man beendet seine
halbfertig liegengebliebenen Schulaufgaben.
Und alle seine Ausscheidungen, sofern sie auf Papier
festzustellen sind, werden gesammelt. Papierkorbinhalte katalogisiert.
Briefe kartothekisiert. Es ist eine Witwenlust, zu überleben und
in Staatsbibliotheken Platz zu erkämpfen für wohlgeordnete
Konvolute. Sie organisieren das Nachleben, die Nachwelt.
Sie sammeln Vereine um das auf Wachstum angelegte
Monument, veranstalten Gedächtnisfeiern, publizieren (auf
Bütten, mit rauhem Rand) die Reden, die gehalten wurden, werfen
sich jedem, der etwas wissen will, mit überschwenglicher Auskunft
ans Herz. Und sind schließlich - kommt ihre Stunde - selber noch
eine die Nachwelt berührende Berühmtheit geworden. Und -
wiederum - was sollten sie anderes tun? Es ist nicht jeder Frau
gegeben, hinter dem Gestorbenen her zurückzutreten. Allzusehr
haben sie sich auf seine Welt eingelassen, haben sich in sie hinein
aufgegeben. Jetzt schwingt das noch nach, will auspendeln.
Die sich unauffällig machen konnten, waren
wahrscheinlich die wirklich Glücklichen. Wo nicht jeder offenbar
werdende Charaktermangel auf Werk hin entschuldigt werden mußte.
Wo geliebt und gelebt wurde. Wo nicht das Phantom "Genie"
blutsaugerisch dazwischentrat. Wo nicht von Dämonie usw. geredet
wurde, wenns einfacher und genauer gewesen wäre, zu bekennen:
"Entschuldigung, ich habe mich vertan".
Die Parabel vom gestörten Kristall, 1977, S. 90f.
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Karli Sohn-Rethel: Werner Helwig Ischia 1935
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Totenklage
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20. August
Eine gewisse existenzielle
Unordnung nimmt zu. Dabei Herbstgold in allen Parks. Alle Blumenbeete
schwelen im Farbnebel ihrer selbst. Kastanien am Boden, wie aus
Mahagoni. Die Riesenzeder, groß wie eine Burg, überschneit
den ganzen Boden mit schwefelgelbem Samenstaub. Und immer, aus der
Seemitte aufsteigend, der hundertzwanzig Meter hohe Springbrunnen wie
ein grauer Riesenspinnrocken. Ich treibe mich täglich und
nächtlich in der Gegend herum. Südweinfarbene Abende, der See
ein Perlmutterspiegel. Ich sitze dann da auf Ufermäuerchen oder
Bootsborden und glaube an mein Wohlsein. Es könnte sein, daß
ich es bin, der so lebt. Ich weiß es nicht genau.
Heute nacht ein bäumeentwurzelnder
Hitzesturm.
Auf der Terrasse tanzten die Dinge. Waagerechte Blitze, den ganzen
Horizont durchädernd, knisterten ohne hörbaren Donner
über die Alpen, deren Schattenrisse sekundenlang sichtbar wurden.
Und der Regen blieb aus wie die Antwort auf meine Frage.
Totenklage, 1984, S. 104f.
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