Logo von Werner Helwig: EX-LIBRIS
					wurde nach einem Original gedruckt,
					das Aubrey Beardsley für Willy Helwig,
					Werner Helwigs Vater, entwarf.



Aktuelles ::  Biographisches ::  Werke ::  Leseproben ::  Gedichte

Stimmen ::  Begegnungen ::  Briefe ::  Archiv ::  Links


Impressum ::  Home








G  E  D  I  C  H  T  E   und fernöstliche Nachdichtungen von Werner Helwig






E  I  N  L  A  D  U  N  G


Komm getrost herein, Fremder.
Dieser Stuhl ist für dich.
Auf dem Tisch
steht Essen bereit.
Doch bevor du zulangst
lies über der Tür den Spruch:
Was du zu haben wünschst
kann ich nicht geben.
Was ich geben will
wünschst du dir nicht.




Orpheus. Zeichnung von Werner Helwig




Seit Jahren mit
dem Fang des Augenblicks beschäftigt,
ist mir nur einer entgangen: jener Nachtzustand,
als der Wind in unserem Brunnen rauschte
und jene Melodie begann, die mich seither
als etwas Unbegriffenes verfolgte.
Meiner lehmdenkigen Art gelang es nie,
auch nur in geahnten Andeutungen dahinter zu kommen.
Das liegt mir fern wie meine unschuldigen
Jugendjahre. Was
kann ich tun, um zu erfahren, was ich will?
Beispiele stehen vor einem
groß wie Gewölke im Raum. Wohl lassen sie
mich wissen: die dümmsten Verstecke sind oft die
besten. Und so stelle ich mich dumm,
um meiner habhaft zu werden. Aber es will
nicht gelingen. Und so in den Mantel des
fragenden Zweifels gehüllt, gehe ich am Rand der
Tage entlang, leicht fröstelnd, der Welt gedenkend
wie einer versandeten Muschel. Kriegerisch
die Maul-Lasche des Helms niederlassend
bis auf die Unterlippe, um meine letzte
Weisheit gebührend verteidigen zu können:
Das kleine Wenige sei noch das Meiste, so wie
jemand, der schon gar nicht mehr anders kann
als Tugend zu üben, und dies allein
als sternhelles Ereignis meiner Geschichte.



A ls ich klein war,
fiel eine Sternschnuppe
an der Welt vorbei.
Ich band einen Wunsch
an sie,
der lebt nun fort im All,
und ich habe Angst,
ihm noch einmal
zu begegnen.
Mag sein, er will mich haben.




DIE KLEINEN WARNUNGEN

Ich habe einen Weg gewählt,
den noch niemand entdeckte,
denn es ist mein Weg.
Ich lasse daher
an mich selber die Warnung gelangen:
Wer offenbart,
gerät in Verlust.
Und ich sammle mich im Gebet:
Möge mein Weg
mich nie zum Ziel führen,
denn ich will leben.
Möge ich nie
meinen Weg und sein Ziel verstehn,
denn ich will singen.




Es stand ein Bub und sah dem Sternspiel auf der Lichtung zu.
Dann schuf er sich aus weißem Mondstrahl eine Flöte.
Ihm sank das Haupt zurück, er schloss die Augen
und blies mit spitzem Koboldmund ein Lied,
das raubte gar dem Wipfelwind die Stimme.
Der Mond erlosch, er war ganz ausgetrunken,
verwoben all sein Silber in die Zaubermelodie.
Da scharten sich die Sterne um den Spieler,
und Pflanzen rankten sich an ihm hinauf,
umwanden ihn mit schwarzen Blattgehängen,
und Glanzgewölk entstieg der weißen Flöte.
Doch als der Bub des langen Blasens müde
dem Wind das Tönen wieder übergab,
gewann der Mond und wuchs zu alter Größe.




Es schweigt der Wald meiner Märchen
und es dunkelt über der Wiese meiner Lieder

Siehe
es will eine Stille hingehen
und alles verschleiern
doch klage nicht
denn die Stille ist voller Frucht
und das Schweigen
ist der Schoß tausender Gesänge

Denn brausende Chöre werden den Wald erfüllen
und die Wiese wird sein
ein Schwirren und Tanzen von Klängen

wenn erwachet
der Tag




Der große Gesang

Scharen von Worten entfesselt
Über ihn hinzuströmen, über den Menschen,
Alle Kreatur in schäumenden Wellen
Über ihn hergestürzt.
Die Meere der Erde in maßlosem Aufruhr,
Die Stürme, alle Gewalten
Gegen ihn, gegen ihn.
Überstürmt, übertropft, überregnet,
Rollende Felsen, Fluten von Blut
Glühend über ihn hingezogen -
Und er,
Im Dunste des Wütens, im Nebel der Lobgesänge, im Hass,
Er steht, jung, wunderbar,
Er steht und lächelt. Und zwischen dem Lächeln Tränen,
Ein warmes Geflecht von Tränen auf dem jungen Gesicht.

Ich ernte nichts, sagt er, und keine Erfahrung macht mich klug.
Ich stehe mit demselben kindlichen Erstaunen
Jeden Tag vor der Welt,
Jeder Tag geht hin, und ich habe diese ungeheure Gärung,
Die "Leben" heißt, immer noch nicht geläutert.
Jede Stunde ist vergeblich, in der ich nach Klärung trachte.
Ewig sind die Horizonte verhängt.
Ewig geschieht auf dieser Bühne etwas,
Was mich nicht begreift, was ich nicht begreife.
Und der Wechsel der Bilder: das sind die Gezeiten der Schöpfung,
Es ziehen da die eisweißen Monde herauf und verwesen wieder.
Nach Nächten voll unfassbarer Finsternis,
Mit einem dumpfen Warten auf Geburt,
Kugelt sich eine junge Sonne wieder hervor
Und geht milde mit den Trümmern um, die sie bescheint.
Und unter ihren pflegenden Lichthänden
Gedeiht immer wieder Freude hervor.

Betet die Sonne an oder die Nacht
Betet die Gestalt an oder das Blut
Bürdet euch Lasten auf, um euch daran zu fühlen
Oder schmeißt euch hin an die Trägheit
Zeugt oder zeugt nicht
Seid schwach: dann seid ihr die Lücke im Starken
Seid stark: dann seid ihr die Lücke im Schwachen
Ihr dient, ob ihr wollt oder nicht
Ihr dient dieser Welt.
Ihr liebt, ob ihr wollt oder nicht
Ihr liebt diese Welt!




U nwiderstehlich
wie der Raum die Zeit
verzehrt der Mensch die Welt.

Die Mitgenossen Tiere aus der Arche,
die auch mit zur Gestalt unseres Seins gehören -
wir sind dabei, sie auszurotten.

Nur noch Termiten, Heuschrecken, Parasiten,
in uns wie außer uns,
gedeihen bestens.

Der Planet ist verstört. Die
Tempel, aus denen unser Denken stammt,
sind verwackelt.

Auf gärenden Böden wird Säulen übel.
Gezeiten treiben Unzucht miteinander.
Der Mond regelt ihren Weg nicht mehr.

Denn wir haben Löcher in die Haut gesprengt,
die unsern Stern verpackt hält,
und Fremdes dringt auf uns ein

mit jener strafenden Geschwindigkeit,
die oft den Freveltaten folgt
wie durch aufgezogene Schleusen;

Schleusen, die wir nicht kannten,
die wir erst bemerkten, als
neugierige Hebel, hoch im Leeren angesetzt,

ein großes Stellwerk trafen und betätigten.
Oh Humor, alter bräunlich-goldener Gott,
zünden wir dir Lichter an.




D ie Furcht kniete an meiner Seite
und faltete meinen Leib zusammen wie einen Vorhang.
Hinter dem Vorhang war alles das,
was ich nicht sagen kann.






Aus: WORTBLÄTTER IM WINDE. NACHDICHTUNGEN JAPANISCHER TEXTE


Z urückgelehnt in meine Liebe
Wie in das Fahren einer Barke
Und überlassen ganz dem Herren meines Herzens,
Fühl’ ich, am Rande meines Glückes,
Fühl’ ich das Dunkle langsam näherklimmen.
Aus der Zeit des Kaisers Yomei (629-642)




I ch habe an deinen Spuren geruht, Geliebter,
Im Schnee der Berge.
Ich weiß, wenn du wiederkehrst,
Bin auch ich ein Weg voller Schnee
Und deine Spuren ruhen in mir.
Aus dem „Manyoschu“




DAS ALTER

G estern
Sah ich reiche Träume für morgen voraus.
Heute
Habe ich die Träume
Von vorgestern gesucht.
Kiyosuke (um 1200)




FLIESSENDES LEBEN

D u zögerst?
Es gibt kein Ende,
Die Fahrenden
Kennen kein Ziel.





M ohnblumenblatt, gelöst,
Wie leicht. Und ich,
Gelöst,
Wie schwer.
Etsujin (um 1700)




DIE HINKENDEN JAHRE

D ie Monde fließen.
Der Mond schleppt seine Netze übers Meer.
Es dämmert schon
Beim Frühlingswein.

Das Leben spielt sich so hin.
Neigungen. Erfreulichkeiten.
Am Anfang schätzt man Schmuck.

Doch eines bleichen Winters
Wirst du dein Gesicht unterm welken Laub vergraben
Und dich nach innen wenden,
Wo auch nichts ist.

Du mit dem Schwert,
Du mit der Schnelligkeit:
Es dauert nicht lange.
Du an der Brust des Mädchens:
Es dauert nicht lange.

Die Jahre auf Krücken,
Die hinkenden Jahre,
Die heraufdämmerten beim Frühlingswein,
Sie betrachten ihre Beute,
Sie betrachten dich
Mit Blicken wie aus Hanf.




Textbeispiele aus WALDREGENWORTE, Eugen Diederichs Verlag 1955

„Formen lyrischen Denkens“ nannte Werner Helwig seine Sammlung der WALDREGENWORTE.


A n die Flossen der Fichte,
die sich nicht wehren,
hängt sich entschlossen
Edelsteinwasser des Schnees.


I m Schneckenhausanstieg
von Himmeln über Himmeln
ist der eben noch deutliche Gedanke
auf Vogelfüßen
hinweggehüpft.


I m Herzen, dem mennigroten,
vom Wind der Begegnung berührt,
taste ich ab mit blindem Stabe
unübersehbare Meerufer des Schnees.


W o die Gasse grau geworden,
Menschen ihre dornige Zeit verbrachten,
in dieser Schenke soll es sein:
Einen Becher für die Tür, durch die wir kamen,
einen fürs Fenster, durch das wir schauen,
einen fürs Dach, damit 's noch hält.
Was es auch immer war,
man hat 's geliebt.


D a er eintrug die schweigenden Zeilen
in den Sand, am Rande der Flut,
war hinter seinen Augen eine Hast,
wie die des Himmels, wenn der Sturm,
das eisige Gebiss nach vorn gestreckt,
wolfshäuptig hinwühlt den Untergang.


D ie Furcht kniete an meiner Seite
und faltete meinen Leib zusammen wie einen Vorhang.
Hinter dem Vorhang war alles das,
was ich nicht sagen kann.



SCHLUSS-GEBET

Ruhe am Tage, Ruhe in der Nacht,
Ruhe zu aller Zeit.
Ruhe und Geborgenheit bei Tage,
bei Nacht und zu aller Zeit.
Schnee über alle Wege, alle Berge,
alle Täler.
Ruhe und Geborgenheit über alle Wege,
alle Berge, alle Täler.
Schnee über alle Wälder, alle Meere,
alle Flüsse.
Ruhe und Geborgenheit über alle Wälder,
alle Meere, alle Flüsse.
Schnee über meine Hände, meinen Mund,
mein Gesicht.
Ruhe und Geborgenheit über meine Hände,
meinen Mund, mein Gesicht.
Ruhe über mein Herz.
Geborgenheit über mein Herz.
Schnee über mein Herz.




Von Gerda Helwig rekonstituierte Fassung nach dem Urtext der MITTERNACHTSMESSE,
SCHLUSS-CANTATE, Capri 1936



R uhe am Tage, Ruhe in der Nacht,
Ruhe zu aller Zeit.
Ruhe und Geborgenheit bei Tage
und bei Nacht und zu aller Zeit.


Schnee über alle Straßen,
Schnee über die Häuser und über die Menschen.
Ruhe und Geborgenheit über alle Straßen,
alle Häuser, alle Menschen.


Schnee über allen Verfall,
Schnee über alle Toten und alle Schuld.
Ruhe und Geborgenheit über allen Verfall.


Schnee über meine Hände,
Schnee über mein Gesicht.
Ruhe und Geborgenheit
über meine Hände, über mein Gesicht.


Ruhe über mein Herz.
Geborgenheit über mein Herz.
Schnee über mein Herz.