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					das Aubrey Beardsley für Willy Helwig,
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B  I  O  G  R  A  P  H  I  S  C  H  E  S 




P h a s e n   i m   L e b e n    v o n   Werner Helwig




1905 - 1918 Kindheit und frühe Jugend



am 14. Januar 1905 geboren in Berlin-Friedenau als einziges Kind hamburgischer Eltern. Schullaufbahn: Realgymnasium, Gemeindeschule, Städtische Volksschule. 1917 Scheidung der Eltern, Unterstellung unter das Sorgerecht des Vaters (Willy Helwig). Im Nachkriegswinter 1918/19 erster Kontakt zur Wandervogelbewegung.



1919 - 1926 Lehr-, Studien- und Wanderjahre



1919 Erziehungsanstalt „Rauhes Haus“ in Hamburg. 1920 landwirtschaftliche Lehre, Gärtnergehilfe und Arbeiter in einem keramischen Betrieb. 1922 Beginn des „Studiums“ in Hamburg: als Schwarzhörer von Vorlesungen und im Selbststudium Erwerb umfassender Kenntnisse in Sprachen, Literatur, Kunst, Musik, Ethnologie und Sinologie. 1923 Inhaftierung wegen Teilnahme an einer kommunistischen Friedensdemonstration; nach Haftentlassung Hilfe in Kreisen des Wandervogels. Beginn eines stark von der Jugendbewegung bestimmten Lebensabschnittes. Seit 1923 Wanderungen und Fahrten, u.a. nach Schweden und Norwegen (Lappland), Besuche bei Knut Hamsun (1923), Thomas Mann (1925) und R.M. Rilke (1926).




Werner Helwig, 1919








1927 – 1933 „Burgzeit“ – das Leben auf der Burg Waldeck



wiederholt längere Aufenthalte auf Burg Waldeck im Hunsrück, dem Sitz des Nerother Wandervogels; Beitritt zum NWV; Teilnahme an Großfahrten; Entstehung von Gedichten und Liedern; Beginn des Briefwechsels mit Rudolf Pannwitz; Begegnung mit Ernst Fuhrmann; Beginn der fast 40jährigen Freundschaft mit Hans Henny Jahnn. Ab 1929 Leitung eigener Nerother-Gruppen. 1931/32 Gefängnis- strafe wegen Verstoßes gegen §176.











1933 – 1949 Emigration und Jahre des Exils an wechselnden Orten



am 30. Januar 1933 Flucht aus Deutschland. Auf Capri Begegnung mit Theodor Däubler. Rückkehr nach Deutschland zur Unterstützung der Freunde aus dem Nerother Wandervogel; pro forma Beitritt zur HJ mit dem Ziel der Unterwanderung. 1934 erneut Flucht wegen Verhaftungswelle gegen Bündische. Als Emigrant wiederholt in Italien, besonders auf Capri (1934, 1936, 1938), Ischia (1935, 1937) und in Griechenland. Drei Griechenlandreisen (1935, 1937/38, 1938) zu Alfons Hochhauser, Vorbild der Clemensgestalt der RAUBFISCHER; Leben unter Bauern, Hirten, Fischern und Schmugglern. 1937 Islandreise mit Freund Richard Lohmann; wiederholt Besuche bei H. H. Jahnn (1937, 1938, 1939), Aufenthalte in London (1937), Paris (1937, 1938) sowie in der Schweiz (1937, 1938, 1939). Auch wiederholt in Deutschland. 1939 kurz vor Kriegsausbruch als Emigrant in Zürich. 1940 Begegnung mit James Joyce. 1941 Heirat der Welsch-Schweizerin Yvonne Germaine Diem. 1941 und 1943 Geburt zweier Söhne. Wegen Verstoßes gegen das seit Kriegsbeginn für Ausländer bestehende Schreibverbot Ausweisung aus der Schweiz. 1942 bis 1949 Exil im Fürstentum Liechtenstein.



1950 – 1985 Die Schweizer/Genfer Jahre



Werner Helwig, 1983, Genf; Foto: Ursula Prause
1950 Übersiedlung nach Heiden/Appenzell, nach Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Schweiz nach Genf. Erscheinen der meisten seiner Bücher. Freier Mitarbeiter zahlreicher deutscher und schweizerischer Zeitungen und Zeitschriften. 1951 Preis der Mainzer „Akademie der Wissenschaften und der Literatur". Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums, des PEN Club Liechtenstein, des Verbandes der Deutschen Schriftsteller. 1981 Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. Familienreisen u.a. nach Südamerika, Japan und Indien. 1978 Tod seiner Ehefrau Yvonne. 1981 Wiederverheiratung mit Gerda Heimes. Am 4. Februar 1985 Tod in Thônex bei Genf. Begraben in Wormbach bei Schmallenberg im Sauerland.












S c h i c k s a l s o r t e  i m   L e b e n   v o n   Werner Helwig




Berlin

Das Glück, Berliner zu sein

Wer das Glück hat, als Berliner zur Welt gekommen zu sein, kann, falls er lange Zeit außer der Heimat zu leben gezwungen ist, bei der überraschenden Begegnung mit andern Berlinern erkennen, wie viel „Heimat“ einzig und allein schon im Dialekt liegt. Besonders wenn es einem lausig geht, bewährt dieser Dialekt eine ungeheure objektivierende Kraft. Den Weltdingen gibt er plötzlich jenes Maß von Wirklichkeit, durch welches wir befähigt werden, sie zu bestehen. In auswegloser Lage zu „berlinern“ – wie oft war mir das hilfreich. Wie oft konnte ich andere damit vom Rande der totalen Betrübnis zurückreißen. Wie oft gab es mir die Tatkraft und nicht nur sie, sondern auch die Tat-Fähigkeit zurück, wenn Kopfhängerei das letzte Mögliche zu sein schien. Dichtungen, die in diesem Sprachklima entstehen, ohne sich in ihm auszudrücken, bekommen unwillkürlich etwas von dieser lustigen Härte mit. Melancholie in ihrer flauen Ausprägung kommt hier unbedingt zu kurz; aber männlicher Ernst, auf die Formel seiner galgenhumorigen Trockenheit gebracht, wird zu einem das Lebensvergnügen steigernden Wert. Das Ausweglose verträgt sich schlecht mit dem Berlinischen. Der Witz reißt Luftlöcher, Schlupflöcher, Türen, Pforten, Brandenburger Tore in die Gummizelle der Hoffnungslosigkeit.
Berlin hat einmal auf der Rangtafel der internationalen Bedeutung, wie Oswald Spengler sie aufstellte, Paris überrundet. Inzwischen kamen Washington und Moskau zum Zuge: aber seltsamerweise nur, um sich wiederum über Berlin zu streiten. Somit wird also dieser Stadt die Unvergänglichkeit so lange sicher sein, als jene bestehen und an ihrem Schicksal herumzudoktern suchen. So weit hat es nicht einmal Karthago gebracht. Und Spengler müsste, heute lebend und den Blick auf die Gegebenheiten richtend, eine neue Wertungstabelle entwerfen.
Ein anderes Positivum, das Berlin mit Paris und Rom gemein hat, ist die Treue, mit der auch Fremde an der Stadt hängen, wenn sie einmal für längere Zeit in ihr lebten. Galt es in den Jahren zwischen 1920 und 1930 nicht unbedingt immer als Vorteil, sich in der Welt als Berliner zu bekennen, – zeitweise wurde das sogar in Hamburg, im Rheinland und besonders in München als wertvermindernd empfunden – so ist dies heute im Westen wie im Fernen (und fernsten) Osten einer freudigen Bereitschaft gewichen: „Ah, Sie sind Berliner...“ Und man spürt die Erwartung, die mit dem Ausruf verknüpft ist, und sucht ihr unwillkürlich zu entsprechen. So hat der Ruhm, Berliner zu sein, sogar noch eine selbsterzieherische Note bekommen.
Werner Helwig
Als gebürtiger Berliner sprach Helwig bis zu seinem Lebensende ein selbstverständliches Berlinerisch, obwohl er die Stadt ca. 1920 verlassen hat und bis 1933 nur noch zweimal besuchsweise dort war, danach nie wieder.
Gerda Helwig










Hamburg

Das, was entscheidend ist für die Ausbildung des Begriffes „Heimat“, meine ersten Freundschaften, meine ersten Lieben, kam in Berlin zustande. So bleibt auch diese Stadt in meiner Erinnerung (und in meinen Träumen) mit dem Klima meines Elternhauses – solange es noch intakt war – verknüpft. Später allerdings war es die Herkunftsstadt meiner Eltern – Hamburg –, das mich stärker anzog. Das Haus der Großeltern in Alt-Rahlstedt ist mir unvergesslich. Die Herbstnachmittage mit Kuchen und Kaffee im „grünen“ Salon und das dänisch akzentuierte Deutsch meiner Großmutter sind für mich heute zu einer absoluten Verdichtung des Heimatgefühls geworden.
So komme ich mir auch bei jedem Besuch – heute – in Hamburg nicht als der heimkehrende verlorene Sohn, sondern der gefundene Sohn vor. Was für mich Deutschland ist oder sein kann, rückt im Namen dieser Stadt zusammen. Wobei ich den hanseatischen Stolz (ein immer ironisch zu verstehender Stolz) oft im Ausland ausgespielt habe. Auf die Frage „Sind Sie Deutscher“ antwortet man „Nein, Hamburger“.










Hunsrück

Machte sich da einer auf – es mag Mitte der Zwanzigerjahre gewesen sein, um zu Fuß von Hamburg nach der Burg Waldeck im Hunsrück zu tippeln. Er hatte bei Freunden Hefte des Nerother Wandervogels gefunden, das Gründungsheft des Bundes von 1920 und das Sonderheft „Der Schokoladenfeldzug“, die hatten ihm eingegeben, das sei seines Wesens, da gehöre er hin. Und da die Adresse der Bundesburg in den Heften mit angegeben war, beschloss er die einsame Fahrt zu wagen. Was „Fahrt“ war, wusste er durch Hamburger Wandervogelbünde, bei denen er gelegentlich gastierte. Er „organisierte“ einen alten Militärtornister, einen alten Militärmantel, der zugleich Schlafsack zu sein hatte, ließ sich einen fantastischen Wanderkittel in grauen, schwarzen und roten Farben zurechtnähen, behing sich mit einer Feldflasche, einem kleinen Kochtopf, Fahrtenmesser und Revolvertasche, in der er Pfeife und Tabak barg, und zog los, kurzhosig, mit Marschstiefeln und einer winzigen Summe ersparten Geldes im Brustbeutel.
So kam er bis Bremen. Dort sann er auf Änderung der Anstrengung ins Bequeme und fing an, Autos anzuwinken. Die waren damals noch selten. Aber man bekam ab und zu eins. Mit dieser Tat hatte er den Begriff „Trampen“ aus der Taufe gehoben. Dünkte sich ein damaliger Wandervogel noch zu schade für diesen Sport, so wurde es nun bald üblich, diese Möglichkeit auszuschöpfen. So gelangte er in ein paar Tagen schon bis zum Rhein (er sah ihn zum ersten Mal) und weiter, die Mosel hinan bis Burgen. Hier erklomm er – es war abends - einen der schiefernen Weinberge, um in einer der vielen Burgen, die er sah und die ihn neugierig machten, um Quartier zu fragen. Der Burgherr – es war eine der wieder ausgebauten Burgen – zeigte sich sehr amüsiert durch dieses Ansinnen, das ihm sicher zum ersten Mal begegnete, und der Werner Helwig (er war es) wurde eingeladen, zuerst zum Abendbrot, dann zum Wein, mit dem er gleich – es war ja ein erstes Erproben auf Gegenseitigkeit – Freundschaft schloss. Der Burgherr – ein jovialer Mensch – wusste schon etwas von der Nerother Burg mitten im Hunsrück, auch von der Burgbelegschaft, die er als „wilde Gesellen“ bezeichnete, da er ihnen gelegentlich begegnet war, wenn sie von der Hochebene des Hunsrück bunt und singend zur Mosel hinabströmten.
Wie er ins Bett gekommen war, wusste Werner Helwig später nicht mehr, aber nach einem sehr ordentlichen Frühstück (vom Söller aus durfte er noch einmal auf die vielfältig gewundene, lauchgrüne Mosel schauen) machte er sich unverzüglich auf den Weg. (...)








Nach  mancherlei Kreuz- und  Quer-Irren, He- rumfragen in kleinen,  hellen Dörfern,  Beleh- rungen in einem Dialekt, der wie eine Fremd- sprache  auf  ihn  wirkte,  gelangte er abends auf  das etwas wirr anmutende Gelände,  das unter   einem  so  klangreichen   Namen  lief: „Rheinische  Jugendburg“.  Das war auf den ersten  Blick  hin nichts  anderes als eine Ba- racke  mit   Pferden,  Ziegen   und   Hühnern unten drin und einem Wohngeschoss darüber und einem gewaltigen Misthaufen davor.
Junge Leute,  nicht minder seltsam gekleidet wie er,  schauten ihn so befremdet  spöttisch an wie er sie, trugen kleine, ganz an die eine Schädelseite   geklebte  Baretts, Militärlitew- kas, farbige Hemden.
Einer von ihnen  –  er nannte sich  Paul  Wey- nandi – brachte ihn zum Bundesführer Robert Oelbermann. Der hinkte an einem Stock  um- her,  war aber gleich  offen,  freundlich,  mit einem  zigeunerischen  Charme, ließ sich er- zählen und erzählte  selbst, führte  den uner- warteten  Gast an den Rand eines gewaltigen Tals,  das der Platz erst gar nicht ahnen ließ, und  zeigte  ihm in der  raunenden  Tiefe die wirkliche  Burg  Waldeck, das heißt, was von ihr noch übrig war.  Ein ungeheurer Eindruck, der,  zusammen mit der Stimme,  den Erläu- terungen  des  Bundesführers sofort bei Wer- ner Helwig den Entschluss zeitigte:   Hier bin ich und hier bleibe ich.
                Autobiographischer Text von Werner Helwig




Ein Hühnerstall, den Werner Helwig sich 

„zum Palast“ umbaute.

(Foto Brecht Stempel, 1929)

Ein  alter  Hühnerstall,  den Helwig
Burgruine Waldeck im Baybachtal/Hunsrück

Burgruine Waldeck im Baybachtal/Hunsrück

Innenleben eines Hühnerstalls,
 
den Werner Helwig sich 

„zum Palast“ umbaute.

(Foto Brecht Stempel, 1929)

sich  „zum  Palast“  umbaute.  (Fotos: Brecht Stempel)












Werner Helwig, 1954, auf Burg Waldeck
Werner Helwig, 1954, auf Burg Waldeck

Die „Burg“, das war der lodernde Mittelpunkt meines Jugenderlebnisses. Jeder Mensch hat ein Jugenderlebnis, um das er insgeheim kreist. Um das herum er fruchtet, zur Fülle seiner selbst gelangt, ein Baum, der mehr und mehr Jahre ansetzt, reiche Jahre, arme Jahre, je nachdem dieses Jugenderlebnis ihn nährt, tränkt, durchtränkt. Bedauerlich all jene, in deren Mark es nicht schwärt, weiterschwärmt, Wärme und Wachstum gibt. Ich danke der „Burg“ das, was ich bin, das Herz meines Herzens, die Sehnsucht, die mich nicht altern lässt.

Wie war doch die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, damals, 1928, 1929, in den reichsten, den gefülltesten Jahren der Burg: dass jeder seinen inneren Weg als einem äußern folgen sollte, dass die Burg ein Stern werden sollte am Ende all unserer Knabenfährten, in den wir münden wollten mit unserem Sein, mit unserer Arbeit. Ein neues Lebensgefühl wollten wir verwirklichen.
AUF DER KNABENFÄHRTE, S. 13 und 194











Lappland


Werner Helwig, 1929, 
zurück aus Lappland

Foto: B.Stempel
W.Helwig, 1929, zurück aus Lappland - Foto: B.Stempel
Wir stapften durch den schmelzenden Schnee in der Nähe des Sees Torne Träsk, dessen kühle, schwarze Wasser wir im Winde rochen. Langsam und müde bewegten wir uns; drei Tage lang waren wir über vereiste Fjälls gestiegen, kamen von Kautokeino herab, der nordnorwegischen Lappensiedlung, und befanden uns jetzt in den wärmeren Tälern des schwedischen Gebiets, wo der Frühling schon zaghaft den Boden berührte. Wer aber war das, - wir? Zwei Tragrentiere, die das Zeltgerät auf schlittenkufenartig gebogenen Stämmen nachschleiften, der Hund Patte, die Lappen Huik, Souluk, Bokkes und Vuolle, zuletzt der alte Sänger Nespe, das Haupt der Sippe, mit der Kantele auf dem Rücken, jenem in eine Renhaut verpackten Saiteninstrument, von dem er sich nie zu trennen pflegte. Und neben Nespe meine Wenigkeit, stark erschöpft von den Füßen her, weil mein Schuhwerk dem von der Erde zerstampften Boden in keiner Weise entsprach, denn vor uns allen her zerpflügten einige hundert Ren mit nervöser, uns ihr Tempo aufzwingender Ungeduld den Schnee, der um so matschiger wurde, je tiefer wir kamen.
Da schwor ich mir mit verzweifelter Eindringlichkeit, nie mehr anders als in Lappentracht und mit Lappenschuhwerk eine Lappenwanderung mitzumachen. Wie bequem war der Paesk, den sie trugen, dieser weite, wamsähnliche Sack aus dunkelblauem Filz mit gelben und roten Schmuckborten. In diesem tief auf den Hüften gegürteten Beutel war man luftig und warm zugleich verpackt. An mir, in meiner doch erprobten, europäischen Wanderkleidung klebte alles, und die Füße in den schweren, genagelten Lederstiefeln goren im eigenen Saft. Wie beneidete ich Nespe um seine hautweichen Schnabelschuhe aus Rentierhaut, deren Fell nach außen gewendet war. Er glitt auf ihnen lautlos durch den Schnee wie auf kleinen Skiern. Und wie lernte ich auch den Wert einer lappischen Kopfbedeckung verstehen. In der hohen, halbsteifen Zipfelmütze konnten sich die Haare trocken halten, während meine gestrickte Bergmütze mir ein so abscheuliches Jucken verursachte, dass ich sie dauernd abnehmen musste, um mich zu kratzen; eine schöne Gelegenheit für den immerhin noch sehr eisigen Wind, mir einen trefflichen Schnupfen zu versetzen. Außerdem, wie praktisch war eine solche Lappenmütze, mit dem breit vorstehenden Lederschirm, der die Sicht gleichsam einfasste, und der dicken feuerroten Quaste obendrauf, die, wenn man sich in diesen Einöden verirrte, wie ein Signal weithin zu sehen war.
Drei Tage über vereiste Fjälls, weiß Gott, das war keine Kleinigkeit für einen von der Zivilisation verwöhnten Menschen, es war nicht einmal für die Lappen einfach. Auch sie schnauften hörbar.
Höher oben war es noch erträglich gewesen, weil die Hufe der Rentiere die Schneedecke lediglich durchlöcherten. Unser Weg hatte da ausgesehen wie das unendlich entrollte Notenband einer Karus- sellorgel.
Jetzt war ihre Fährte, die seit Menschengedenken im gleichen Wechsel verläuft, aus einem weißen zu einem grauen und schließlich schwarzen Band geworden. Die Erde kam durch. Sie mischte sich mit Klumpschnee zu einem glitschigen Brei.
Gleichzeitig gerieten wir immer tiefer in eine Dunstschicht, die nicht mehr allein der urin- und fellrüchige Atem der Herde war, darin zu gehen wir uns gewöhnt hatten, sondern eine Vorstimmung von Regen. Da fiel es immer schwerere, meine Beine durch den Matsch zu ziehen. Ich blieb zurück. Aber auch Nespe war müde und blieb zurück.
Ja, so war es. Wir beide blieben immer weiter zurück in der Wanderzeile. Und bei dieser Gelegenheit geschah es, dass Nespe mich in seine Geheimnisse einweihte. (...)
Anfang der Erzählung NACHTWEG DURCH LAPPLAND












Island

„Immer noch werdende Insel / hebt es mich höher und höher / wie des Eises kälteleuchtende Last mich niederdrückt. / Erschreckte Meere starren ... / Die sagenquellenden Gletscher ... / Und meine Ströme, - ich werfe sie hin ...“ So schrieb mir Freund Gudmundur Finnbogason in das kleine, blaue Aufgabenheft, das ich in Reykjavik erwarb, um es als Tagebuch zu verwenden. Gleich beginne ich mit den Eintragungen.

Grindavik. Eine Landzunge aus flach ins Meer ausgelaufener Lava. Graue Wogen brechen prall darüber hin. Jeder Wurf fledert langblättrige Tangpflanzen aufs flaschenscherbenscharfe Lavagezack. Darin bleiben dann hängen: lilagrüne Tapetenfetzen, Fahlschleimiges, wie gekocht aufgequollen und von innen geriffelt wie Netzmagen.
Knollentang, von purpurnem Seegras verfilzt. Weißviolette Schalenmuscheln hängen in Bündeln an den Stengeln. Dazwischen silbern tote Fische. Zerfetzte Flundern, Rochen, zackig wie Tellereisen. Ein Hai, dessen Konturen sich nur mehr als ein Fladen von Maden abzeichnen, - seine eingesunkenen Augen, - sein bleichgelbes Katzengebiss.
Ich verweile, dieses überschauend, im Steuerhäuschen eines Motorkutters, den die See hier abgesetzt hat. Das abblätternde Grau des Bordanstrichs lässt frühere Farben Weiß, Rosa, Grün, durchscheinen. (...)

Bei Bauern in einem Gehöft aus Wellblech übernachtet. Feststellungen: Mangel an Gefühl bei den Schlichten. Ehe ist ein Unternehmen, um Besitz zusammenzulegen. Liebe gleich Familienpflicht. Aber sie haben mehr Worte als wir, um Farben zu bezeichnen. Sie sind ihnen Zeichen, um Gegenden, Jahreszeiten, Tagesstunden zu orten.

Endlich den Rand erreicht, wo die Gegend wieder Profil bekam. Bunte Lipariteinlagerungen mit verzweigten Gängen von Pechstein im grünen und schwarzen Basalt. In der Bruchwand Stränge von Obsidian und Perlit. Niederschriften urgeschichtlicher Wallungen. Später, alles im gleichen Bezirk: Pelagonit-Tuff, dunkelbraunrot, unwahrscheinlich hart anzufühlen, mit starkem Glasglanz. Ich lernte die Aufmerksamkeit verstehen, die der Isländer den Farben widmet.
Auszüge aus: INSIDE ISLAND. Reisenotizen










Sizilien

Dieses Sizilien ist eine verrückte, allem Üblichen entrückte Insel. Keine zwanzig Tage bin ich hier und die Geheimnisse wuchern in allen Farben um den einen geringen Platz, auf dem ich stehe, auf dem ich in Betrachtung verharre. Alles trägt sich mir an, und ich füge nichts hinzu als eine grenzenlose ungemischte Bereitschaft. Ich habe mich erst als den Werbenden um diese Landschaft, um ihre Menschen empfunden. Jetzt fühle ich mich umworben und stehe etwas befremdet im Andrang ihrer Spenden und Schenkungen.
Der Ätna regiert das ganze Land mit den schlafmütigen Linien seiner Gegenwart, mit der schmalen Gebärde seines ewigen Aufbruches. Seine Segnung, im Guten oder Bösen, gibt hier jedem Menschen, jedem Hügel, jedem Haus sein besonderes Gesicht.
Von oben gesehen erweist sich die Insel als eine Tafel, gedeckt mit den reichsten Formen der Schöpfung. Eine Gebirgskette, die sich von Süden nach Osten erstreckt, kann neben dem ungeheuren Krater des Ätna erblickt werden. Sie schimmert von Gneis, kristallinischem Schiefer und Granit. Nach Westen hin, gegen die silbernen Ränder des Jonischen Meeres, erkenne: ganz bleiche, verwaschene Kalk- und Sandsteinhäufungen. Die typische Sprache des Jura. Das Inselinnere sieh beladen mit Versteinerungen, Mergeln, Steinsalzlagern. Der Südosten preist das Sein mit schweren prangenden Basalten. Und dahinein gelegt erkenne ganze Zeilen schaumig ausgewitterten Kalktuffes. Dieses Glück der Landschaft wirbt um uns.
Die arabische Vergangenheit der Insel hat dem Berg einen Namen beibehalten. Mongibello* nennt der Sizilianer ihn. Es wird hörbar, dass der Urtext dscheb-el gelesen werden muss.
Dscheb-el, der Berg, Berg meiner Berge, mit den herrlichsten Namen möchte ich jenen schönen Gipfel geschmückt sehen. Versuche mal, ihn mit innerem Auge zu betrachten, diesen höchsten Vulkan Europas. Ein einziger einsamer ungeheurer Kegel, dessen Wachstum du ablesen kannst, wie von den Seiten eines Buches, weil der Kegelmantel an einer Stelle eingestürzt ist und die Schichten von dunkler Lava, hellen Tuffen und kalkfarbenem Mischwerk zu Tage liegen.
Zart und dünnwandig ist dieser mythische Riese. Die letzten Ausbrüche schufen sich fast an seinem Fuße kleine Privatkrater und Schmarotzerkegel. Lass drei unterschiedliche Gewänder um seine steinernen Hüften gewunden sein: die sanft ansteigende Regiona coltivata, die mit Getreide, Öl und Wein bebaut ist und herrliche Früchte gedeihen lässt. Die steilere Regiona boschiva, die mit Kastanien, Eichen und, gegen die Höhe zu, mit Pinien bewachsen ist. Und dann die Regiona deserta, eine Wüste von schwärzlichen Lavaströmen, stumpfbraunen Aschefeldern, in die sich bläuliche Schneehänge schräge von oben hereinschieben. Der Gipfel selbst ist dunkel und nackt, wahrscheinlich, weil der warme Atem des Kraters die Niederschläge abtaut.
Sieh, und dieser Ätna ist der jüngste Sprössling in der geologischen Sippschaft Siziliens. Man darf annehmen, er habe seinen Kegel erst unterseeisch aufgebaut. Seine Vereinsamung spricht dafür. Er ist durch tiefe Täler scharf gegen die andern gebirgigen Erhebungen der Insel abgegrenzt. Sein Alter wird mit fünfzigtausend Jahren eingeschätzt. Während der letzten drei Jahrhunderte kam auf alle zehn Jahre ungefähr ein Ausbruch, so dass fünftausend Ausbrüche an seiner gegenwärtigen Gestalt geschaffen haben mögen.
Dieser rätselhafte Ätna reicht mit seinem Dasein schon bis in meinen Schlaf hinein, und ich glaube, dass ich nur hier, und in seinem Banne, Gedanken denken konnte wie diesen, dass die unterwärtigen Strömungen, die Spannungen, die ein Boden birgt, die in einer Erde sich häufen, Anteil haben können am Geschick und Wesen der Menschen, die darüber hausen. Am Geschick letztlich alles Lebendigen, sei es pflanzlich, sei es tierisch, das sich von seinen Kräften nährt.
* Schöner Berg
  Aus: DIE ÄTNA BALLADE











Capri - Arche der Poeten

Die seltsame Insel im Golf von Neapel, an der einst Odysseus, an den Mast seiner Barke gebunden, vorbeigondelte, um nicht den Sirenen zu verfallen, die auf den Klippen saßen und betörend sangen, ist heute jährlich von fast einer Million Touristen besucht. Der frühe Zauber hat also nachgewirkt.
Schon seit griechischen Zeiten hat das Felseneiland eine starke Anziehung auf Poeten, Philosophen und Staatsmänner mit hochfliegenden Plänen geübt. Cäsar Augustus baute sich hier seine Prunkvillen, und Cäsar Tiberius regierte von hier aus 9 Jahre lang das Römische Reich.
Der berüchtigtste Seeräuber des Mittelalters, Cheireddin Barbarossa, Freund des Dichters Aretino, besaß hier eine Fluchtburg, deren Ruinen überdauerten.
In unserer Zeit ist kaum ein bedeutender Name zu finden, dessen Träger nicht eine Zeit auf der Insel weilte. Lenin lebte hier als Gast von Maxim Gorki, Mussolini bezeichnete die Insel als das Kleinod der Méditerrannée. Rilke schrieb hier seine schönsten Briefe und viele Gedichte, D.H. Lawrence suchte hier Gesundung von seinem Lungenleiden, ebenso Theodor Däubler, und W.H. Auden, Graham Green haben heute dort ihre Häuser, Franz Werfel verlebte hier die erste Zeit seiner Emigration, der Nobelpreisträger Pablo Neruda ehrte Capri durch pathetische Hymnen. Wer mit Spürsinn und Aufmerksamkeit auf Capri weilt, kann ihnen allen, Toten und Lebenden, sei es auf dem Cimitero, sei ’s auf der Piazza begegnen. (...)
Verrückte Insel, auf der den Dichtern ein so intensives Nachleben gesichert ist. Deutschen Dichtern. (...)

Helwigs altes Campagnahäuschen von 1934 Helwig, vor der Tür sitzend, mit Blick aufs Meer:  „geborgen in einer nicht mehr  vor- stellbaren Geborgenheit“          (Foto 1962)

Altes Campagnahäuschen,

das Werner Helwig 1934

auf Capri bewohnte.


Verwunschene Insel auch insofern, als ihr immer wieder goldschwere Beschützer entstehen. Nach Augustus, nach Tiberius (...) waren es Axel Munthe, der in Anacapri jede landschaftlich ergiebige Merkwürdigkeit hamsterte, alte Gebäude in einem hellenisch-arabischen Stil verjüngte und je nach innerer Gestimmtheit oder Erforderlichkeit bewohnte, und in Capri Signor Edwin Cerio, der, selber Architekt (immer waren diese romantischen Geldbesitzer zugleich Architekten, die dem Selbststilisierungswunsch des Lebewesens Capri nachgaben) alle Aussichtsversprechen, alle Bella-Vista-Punkte zusammenkaufte, die er von seiner Hochburg aus, im Zentrum der Stadt, erreichen konnte. Munthe oben, Cerio unten, sie beugten die Insel unter ihre private Herrschaft. Die Spuren ihres Wirkens sind dauerhaft eingekerbt in die Felsenbastionen. Sie werden sich kaum verlieren, ehe nicht das Shakespearewort „Zeit muss enden“ wahr geworden ist.
Einzelveröffentlichung
In abgewandelter Form Bestandteil von: CAPRI – MAGISCHE INSEL











Griechenland - Volos verdanke ich viel

Wie kam ich nach Volos, ich meine: Wie verschlug es mich dorthin, was war der wirkliche, der äußere Anlass, der so viele Konsequenzen für mich als Schriftsteller zeitigen sollte, die „Raubfischer in Hellas“, die meinen Namen in Bewegung setzten und denen – so befruchtend traf mich der Zauber – noch mehrere Griechenlandbücher folgten.
Es war in der Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Ich hatte mich in die Schweiz und anschließend nach Italien abgesetzt. Der Sprung nach Afrika misslang. Und so blieb ich – auf dem Rückweg – an jener Insel hängen, die im Bereich Italiens am meisten vom politischen Geschehen ausgenommen zu sein schien: Capri.
Nach ernsten Wochen mit dem todkranken Dichter des Nordlicht-Epos, Theodor Däubler (er starb kurz darauf im Juni 1934 in St. Blasien), allein geblieben, erreichte mich die Nachricht, dass für mich in Deutschland Publikationsverbot bestand. Ich witterte Unrat und beschloss, meinen Wohnsitz zu wechseln. Wohin? Nach Däublers „Urheimat“, nach Hellas.
In Neapel besorgte ich mir eine Schiffskarte nach dem Piräus. Dort stieg ich um auf einen griechischen Verkehrsdampfer nach Volos. Die Anschrift des Freundes (und späteren Helden der Raubfischer) Xenophon war daran schuld. Er lebte in Peliondörfern, im Boot auf der Ägäis, in unerfindlichen Zusammenhängen. Das alles war nur von Volos zu erreichen.
In Volos ausgestiegen, besorgte mir ein freundlicher Mensch vom Konsulat (das nie hitlerfreudig war, wenn es auch so tun musste) ein Hotelzimmer. Ich tat mich, ein Fremder im ganz und gar Befremdlichen, in dieser Bezirkshauptstadt um, die auf der Schwemmlandebene gelegen ist, mit der Thessalien sich gegen das Meer drängt. Schön war sie nicht. Und die Antike, das klassische Griechenland, war nur spürbar in ihrer völligen Abwesenheit. Zu erleben war da eher eine Art Basarstimmung, und wie im Namen Volos das türkische Golos nachklingt, so in den Geschäftsstraßen die Handelsbeflissenheit Osmaniens, das hier seine Herrschaft immer wieder befestigen konnte. (...)
Mir, der ich von Italien verwöhnt war, erschien Volos zunächst ausnehmend hässlich. Angewidert tauchte ich in seine Turbulenz ein, ließ mich durch die gleichförmigen Straßen treiben, deren pathetische, aus der griechischen Heldensage stammenden Namen Hohn weckten, um so mehr, als ich bei den Fischern im Hafen Pluderhosen, Knöpfchenwesten, Käppis entdeckte, die nichts mit griechischer Tracht zu tun haben konnten.
Doch die Enttäuschung hielt nicht an – schon nach zwei Tagen begann ich, dieses unschöne Volos mit seinen Zweckbauten, nüchtern-neuen Gotteshäusern, der letzten Moschee, die am Stadtrand ganz unromantisch zerfiel, fesselnd zu finden. Fast möchte ich sagen: Je genauer ich es auf meinen stundenlangen Straßengängen erforschte, desto vertrauter wurde es mir. Sogar die völlige Abwesenheit von interessanten Trümmern der Antike stellte sich als Reiz heraus. Volos entpuppte sich als eine Stadt des lebendigen Moments.
Das Neugriechische plätscherte mir angenehm fremd in die Ohren. In zahllosen kleinen Speisewirtschaften reckte ich meine Nase über die Töpfe auf dem im Hintergrund offen betriebenen Herd und wählte mir mein Bohnengemüse mit Lammbraten und Paprika, trank den wasserhellen Retsina dazu, der mich nach anfänglichem Widerstreben rasch überzeugte. (...)
Die schönste Spazierstraße war seinerzeit die Magasia. Sie zieht sich im Osten der Stadt am Meerufer entlang. Warenhäuser und Villen säumen sie. An dieser hoffnungsvollen Straße, deren Namen nichts weiter als „Magazin“ bedeutet, wird offenbar, was für die ganze kunst- und kernlos zusammengebaute Stadt gilt: Ihr Ereignis ist das Licht. Diese neutrale Stadt, die noch keines Eroberers Zerstörungswollust reizte, da sie durch nichts anderes da ist als durch die Beweglichkeit ihrer Bewohner, lebt in einem Licht, das sich im tiefen Grün der Pelionhänge gebadet hat, das sich sättigte an der lehmigen Weite Thessaliens, das sich mit dem fahlen Leuchten des von Ufern rundhin umschlossenen Meeres verschwisterte. Und es ist nicht das Licht als solches, das in ihr triumphiert, sondern die Verbindungen, die es – ein schon vorgefärbtes Licht – mit den Mauern der Häuser eingeht. Sandsteinfarbene, sandkuchengelbe, kaffeebraune, olivgrüne, marzipangraue Tönungen stehen, hart ausgeschnitten, gegen den Himmel, dessen Gestaltwandel von morgens ganz früh bis zum gedämpften Abendrot sich in sozusagen naiven Coleurs verschwendet. (...)
Volos, das ist eine Art Schlüsselburg zwischen Meer und Land, von beiden ernährt, in Gang gehalten, von Hoffnungen getröstet, von Erfüllungen durchzuckt. (...)
Vorgriechisches Gelände dies alles, von vergessenen Mythen schwanger. Mondkulte und Hexenschauer. Von der Vergangenheit durch die Gegenwart hin windet sich der Silberfaden des Pinios, gibt dem Tempeltal seinen feuchten Hauch zu trinken, bis er sich träge und trübe, verbraucht von langer Wanderung, in der Ägäis verliert. (...)


Alfons Hochhauser und Werner Helwig
 
z.Zt. der Entstehung der
 
RAUBFISCHER IN HELLAS (1935)

Alfons Hochhauser und Werner Helwig z.Zt. der Entstehung der RAUBFISCHER IN HELLAS (1935)


Näheres über Helwigs Griechenlandreisen, seine Begegnungen mit Alfons Hochhauser,  die Entstehung der RAUBFISCHER,  den Raubfischer-Konflikt und dessen Lösung unter Briefe










Zürich - Mit James Joyce vorm Suchkasten

Wenn man in Zürich vom Schauspielhaus aus in die Altstadt hinüberspaziert, gelangt man zunächst in die Oberdorfstraße, der dann die Niederdorfstraße folgt, früher ein Ort romantischer Erwartungen, wo sich Lokal an Lokal drängt und wo es aus den Torgängen nach Bier und Wein riecht. Eine silbergraue Atmosphäre umfängt diesen Rest des alten Stadtkerns. Über ihm streben die Türme des Fraumünsters empor.
Gleich am Eingang der Oberdorfstraße befindet sich linkerhand eine Buchhandlung alten Stils. Zwei Schaufenster, mäßig groß, voller Neuerscheinungen aus allen Wissensgebieten, darunter auch Parapsychologie und Okkultismus, Magie und Zauberwesen: eine reizvolle Auslage, die den Blick und Sinn ganz bestimmter Interessenten beschäftigt.
Das Unternehmen nennt sich – auf die schmale Eingangstür ist es geschrieben – Buchhandlung und Antiquariat Hans Rohr. Hier ist in diesen Tagen (das genaue Datum: 2. Juli 1971) ein 50-jähriges Geschäftsjubiläum zu feiern. Anlass für die folgenden. erinnernden Zeilen.
Kann ein Buchhändler und Antiquar wissen, wie tief er mit seinem Angebot geistiger Werte in den Seelenhaushalt seiner Kunden eingreift? Man möchte es ihm wünschen. Es dürfte ihm manche Sorge, manchen Ärger mindern helfen. 1939, in den ersten bangen Kriegsmonaten, war das Antiquariat Rohr für mich ein Hafen tröstlicher Meditationen, die sich meist vor den zerwühlten Suchkästen auf der Straße abspielten, denn ich war ja als Emigrant ohne Mittel und hielt mich an das Billige.
Heute gar nicht mehr aufzutreibende Jugendstil-Ausgaben fand ich dort. Erstausgaben von de Quincey, Seltenheiten aus der Bücherei „Der jüngste Tag“ des Kurt Wolff Verlages, z.B. „Der Heizer“ von Franz Kafka, frühe Inselalmanache, Barlachs Dramenbände (Cassierer), und, heute noch Prunkstück meiner Sammlung, die erste italienische Übersetzung von Samuel Coleridge: „La Legenda del Vecchio Marinaro“ mit den Stichen von Doré, Milano 1889. Wenn ich jetzt meine Bibliothek überschaue, kann ich feststellen, dass mehr als 30 Bände aus diesen Suchkästen alle „Säuberungen“ und wegen Platzmangel inzwischen notwendig gewordenen Einschränkungen überstanden haben.
Nicht nur das ist zu rühmen. Beim oft sehr langen Verweilen vor diesen Suchkästen knüpften sich Beziehungen zu anderen Buchsüchtigen an. So lernte ich dort Armin Kesser kennen, dem ich bis zu seinem frühen Tod freundschaftlich verbunden bleiben sollte. Ich kam dort ins Gespräch mit dem expressionistischen Dichter Max Hermann-Neisse, mit dem Dichtervaganten Jakob Haringer und mit dem damals noch ziemlich unbekannt durch Zürich flanierenden James Joyce. Er erwarb, glaube ich mich zu erinnern, für 50 Rappen eine Dissertation über die Geruchsnerven.
Auch mit Erwin Jaeckle, Chefredakteur der TAT, fand ich mich dort im Büchergespräch. Eine Beziehung ergab sich, die immer noch währt. Ich erwarb zu jener Frist – so genau bleibt das haften – die englische Ausgabe der herrlichen keltischen Sagen von Fiona Macleod für 80 Rappen.
Tempi passati, aber immer noch bin ich mit dem Hause Rohr verbunden, sammle dessen Kataloge und habe immer wieder erfreuliche Fischzüge tätigen können, so kürzlich einmal die Erstausgabe des alten Soergel „Dichtung und Dichter der Zeit“.
Auch im Laden, dessen labyrinthische Gestaltung sehr zum Schmökern einlud, habe ich manche unbelästigte Stunde verbracht, eine Wohltat, die einem nicht gerade in vielen Buchhandlungen zuteil wird, um so weniger, wenn bekannt geworden ist, dass man meist ohne Kauf unterm Arm mit schüchternem Gruß wieder entfleucht.
Wenn es Hermann Hesses Glasperlenspielerparadies gäbe, könnte ich mir Hans Rohr dort gut als Bibliothekar vorstellen, wie er junge Perlenspieler mit ernster Beratung fördert. So wünsche ich diesem wortkargen, aber wissenden Menschen, der das Herz seines Unternehmens ist, noch viele Jahre passionierten und passionierenden Wirkens.










Liechtenstein

Wer Spuk noch nicht erlebt hat, soll nicht danach trachten. Es könnte ihn anfallen, wenn er am wenigsten darauf gefasst ist. Wer ihn erlitten hat, weiß, dass er ein Gefühl wie Erbrechen hinterlässt. Eine sausende Leere im Kopf. Eine Wut, von etwas übertölpelt worden zu sein, das die gewohnte Machtvollkommenheit in Frage stellt.
Bei uns, einer kleinen Familie in der Emigration, stellte sich das in den letzten Kriegsjahren in unserem Gastland Liechtenstein ein, nachdem wir in ein kleines Landhaus, einen 40 Jahre alten Bau, nahe dem Dorf Triesen, umgezogen waren. Säugling Wolfgang konnten wir nun endlich vom Kinderheim zu uns nehmen. Wir lebten in Zimmern zu ebener Erde, etwas eingetieft in den hinterm Haus ansteigenden Hang. Dadurch hatten wir Bergdruck, der sich in Feuchtigkeit äußerte. Das Kind, dauernd verschleimt, war ungeheuer schwer zum Schlafen zu bringen, schrie viel, was vorher nicht seine Eigenschaft war. So saßen wir oft bis Mitternacht am Feuerherd in der Küche, dem sensiblen, auf die Nacht hin immer erregten Kleinen nachgebend, bis er von selbst (nichts anderes half) so müde geworden war, dass man ihn in sein Bett bringen konnte. Doch konnte sich, besonders bei Föhn (Liechtenstein ist ein Föhnland par excellence) gegen drei Uhr das fürchterliche Geschrei wieder erheben. Das alles setzte sich mit den Monaten immer mehr durch. Ungeahnterweise. Die Lage sonst, der Garten, die Sicht, eine gewisse Natureinsamkeit, alles wäre sehr nach unserem Geschmack gewesen. Wir hielten also durch. Aber die Störungen, die sich mit alledem einstellten, leider auch. Sie vermehrten sich sogar.
Störungen. Ich schicke voraus, dass wir junge Eltern waren, kerngesund, nüchternen Sinnes, unterstützt von unserem Durchhaltewillen, an Spukphänomenen nie über das übliche skeptische Belächeln hinaus interessiert. Nur, dass wir durch die Qualen mit dem Kind sehr nervös wurden.
Erste Anzeichen: Als ich einmal frisch gespaltenes Holz aus dem Schuppen in die Küche trug, fiel die Küchentür hinter mir von selbst ins Schloss und der völlig eingerostete Schieberiegel hatte sich zugleich zugeschoben und war kaum wieder aufzubringen. Noch lachten wir darüber. Aber es kam besser. In einer Föhnnacht fanden wir alle Riegel an allen fünf Türen der Wohnung verschlossen. Berechtigten Verdacht auf Schabernack von der Dorfjugend her fassten wir wohl, aber es gab nur zwei gut gesicherte Haustüren, durch die ein Fremder hätte eindringen müssen. Dann: Knalle wie von Steinwürfen an die innere Außenwand, ohne dass Steine fielen. Ich versuchte, die Knalle durch Würfe mit Steinen aller Größen, von innen und außen, nachzuahmen. Es ergab sich nicht das ähnliche Geräusch.
Es gehörten noch einige Phänomene dazu, die ich nicht schildere, weil sie auf Sinnestäuschung beruhen können: zum Beispiel das Verschwinden von Gebrauchsdingen, die wir eben noch in der Hand gehalten hatten und die dann ganz woanders auftauchten, oder das ganz langsame Heruntertänzeln eines Pakets Knäckebrot von der Anrichte oder die Flucht unserer Katze aus dem Haus in den kalten Holzschuppen, nachdem sie Junge bekommen hatte. Stück für Stück schleppte sie ihren Wurf aus der warmen Herdecke ab, nachdem sie beim Mäusefangen im Keller irgendwas Schreckliches erlitten hatte. Sie hatte plötzlich geschrieen, kam hinkend und zerzaust die Kellertreppe rauf, gesträubten Haares. Ich hatte sofort den Keller inspiziert. Kein Kater, keine Ratte oder was immer das hätte sein können. Fallen, die ich aufstellte, blieben unberührt. Wie hätte es auch anders sein können? Die glatten Betonwände hielten dicht. Oft auch, wenn wir nachmittags still am Herd saßen, ereignete sich, was wir das Wischzisch-Geräusch nannten. Das hörte sich so an, als ob ein Reisigbesen in schnellem Strich unter der Küchendecke entlangführe. Das lauschende Schweigen, das dem folgte, schien die Wirklichkeit und Wahrheit des Geräuschs zu verschlucken. Aber wir alle mussten es uns bestätigen. Natürlich haben wir bei aller Spukbedrängnis keinen Augenblick an „Geister“ gedacht. Eher vermuteten wir, dass da etwas, bedingt durch Nerven oder Wetter, über uns hinaus griffe, und, außer Kontrolle gleichsam, in Schabernack, Narretei, Irrfug ausarte.
Dem allen antwortete nun teils erklärend, teils erläuternd, auf jeden Fall aber alle unsere „Phänomene“ bestätigend, ein großmächtiges „Buch des Okkultismus“. Und ich muss sagen, dass es uns, hinsichtlich der Bezweiflung unseres damaligen Geisteszustandes, endlich völlig beruhigt. Ich muss auch nicht mehr Freunden gegenüber, denen ich von unseren Erlebnissen berichte und deren Vernunfteinwänden ich mit einem immer verzweifelteren Aufwand von Worten zu begegnen suche, die Waffen strecken, sondern ich hole dieses Buch hervor und schlage die entsprechenden Kapitel auf: Bitte sehr, da steht’s. Und Namen von bedeutenden Psycheforschern wie C.G. Jung decken es. Wir sind gar nicht allein damit. Seit der Mensch sich selbst erfährt, kommt sowas vor. Nur eben besteht – jedenfalls für unsere Zeit – eine Art von Konvention, dass man dergleichen ironisiert oder mit belustigtem Lächeln ablehnt. Der aufgeklärte Zeitgenosse erträgt das nicht. Es würde ihn in allen seinen sachlichen Intentionen stören. Aber vielleicht eröffnet – und viele heutige Bestrebungen zeugen dafür – vielleicht eröffnet die wissenschaftliche Erforschung des Okkulten Zugänge zu eigenen, unerkannten Kräften, die uns, bewusst gemacht und unter Kontrolle gebracht, zu einem erweiterten Selbst- und Weltverständnis verhelfen können.
Jenes Buch verdankt sich dem parapsychologischen Forschungseifer von Dr. Fanny Moser, 1872 in Badenweiler geboren, 1953 in Zürich gestorben. Ein erster Teil erschien bereits 1950 mit einer Vorrede von Professor Dr. C.G. Jung unter dem Titel „Spuk, Irrglaube oder Wahrglaube?“
Das heutige, aus dem Nachlass ergänzte Werk erfasst in großzügiger Raffung so ziemlich alles, was, seit man darüber nachsinnt, aufgezeichnet worden ist. Es ist gespickt mit den merkwürdigsten Zitaten, Geisterberichten, Geisterverhören, okkulten Experimenten, einschließlich der Betrugsmanöver berühmter Medien der neunziger Jahre, als der Spiritismus grassierte. Man kann sich kaum jemand denken, den das nicht berührte, besonders solche, die mit Kunst zu tun haben. Denn da ist von Farbenhören und Tönesehen die Rede, von seltsamen Eingebungen, bewiesener und zufälliger Prophetie, Psychographologie und echten und gefälschten Materialisationen. Verrückte Zeugnisse und Zeugen alles dessen, was der Mensch unternahm, um hinter sich selbst zu kommen oder doch hinter das, was ihn vordergründig bedingt.(...)

Aus Werner Helwigs BÜCHER-TAGEBUCH: Rezension des Buches von Fanny Moser, DAS GROßE BUCH DES OKKULTISMUS, Einführung von Professor Dr. Hans Bender. Walter Verlag 1975










Genf

Jetzt wohne ich seit zwölf Jahren in Genf, aber wir sind als Familie nicht weniger oft „unterwegs“, wie ich als einzelner junger Mann damals. Warum wir gerne in Genf wohnen, will ich erklären.
Wir wohnen seit zwölf Jahren in Genf, und zwar immer am gleichen Fleck. Nämlich jenem Arbeiterquartier, das einerseits mit einer Brücke über die Arve in den Vorort Carouge führt (...) und das andererseits an die Banlieue grenzt, wo zwischen aufgelassenen Kanisterhütten und Obstkistenlauben die modernsten Wolkenkratzer spargelschnell in die Höhe sprießen.
Wir wohnen gerne in dieser bewegten Zwischenwelt. Unser Sohn hatte – als er noch klein war – es nicht weit bis zu den Sandufern der Arve, und wir haben es bequem, weil die alles verbindende und alles erreichende Linie 12 direkt vor unserm Hauseingang hält. Außerdem fußt das 7stöckige Haus gleichsam in einem Gewimmel von modernen Läden, wo alles zu haben ist, was das tägliche Leben erfordert.

Werner Helwig, Frau Yvonne und Sohn Gerhard

in der ersten Genfer Wohnung, 1950
Wir haben eine Dreizimmerwoh- nung im 6. Stock inne, durch die Balkontür begrüßt uns die Morgensonne, vor den Schlaf- zimmer- und Küchenfenstern nimmt der Abend von uns Abschied. Die Aussicht bedient uns zwar reichlich mit Häuserwänden, aber über sie hinweg können wir die schön- genarbte, weiterstreckte Bergkante des Salève und nach Westen hin die Jurakette eräugen, also große Stücke ferner Natur, deren Aus- sehen uns über das zu erwartende Klima belehrt.

Fragen von Freunden, warum ich meer- und inselverwöhnter Mensch, ein Landschaftstrunkener, wie man gern spöttisch hinzufügt – warum ich, resp. warum wir ausgerechnet in dem grausilbernen Genf ausharrten und reichlich Smog, Benzingewölk und immer mehr zunehmenden Verkehrslärm in Kauf nähmen, beantworte ich gewöhnlich wie folgt:
Die Stadt ist mit all ihren Einrichtungen und Traditionen ein weltpolitisches Zentrum besonderer Art. Man hat hier das Ohr hellhöriger als sonstwo am Puls der Ereignisse, die heute, entscheidender als irgendwann, unser Schicksal mitbestimmen. Und dieses Teilhabe am Ahnen, Kennen, Wissen ist spannender als alles, was uns sonst beschäftigen könnte. Wir halten den obersten Rang eines Amphitheaters besetzt, von wo aus wir jene große Tragödie in allen ihren Phasen verfolgen können, die man den Endspurt des 20. Jahrhunderts, und in ihm denjenigen des Abendlandes, nennen könnte. (...)
Die Stadt bietet keine besonderen Sensationen. (...) Genf ist überall Genf, so weit der Name reicht. Es ist eine nüchterne und eine ernüchternde Stadt. Und deswegen ist sie der beste Arbeitsboden, den ich je für meine Tätigkeit – diejenige des freien Schriftstellers – ermitteln konnte.

(über die Wohn- und Lebensverhältnisse in Genf in den folgenden Jahren siehe Helwigs Briefe an Monika Mann vom 15.10.71, an Richard Seewald vom 11.6.72, 16.5.76, an Rolf Bongs vom 7.7.77 und an Walter Helmut Fritz vom 17.10.78)




Werner Helwig am Genfer See, 1983 (Foto: Ulrich Prause)
Werner Helwig 1983, Foto: Ulrich Prause